Erinnerungskultur in Ingolstadt stärken

Für ein würdiges Gedenken – Stärkung der Erinnerung an Ingolstädter Opfer nationalsozialistischer Verfolgung

Bei der Kranzniederlegung zur Erinnerung an den Widerstand von Paul Weinzierl kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs hat Oberbürgermeister Dr. Christian Scharpf die Bedeutung des Gedenkens für unsere Demokratie und unsere Zukunft gewürdigt.

Dazu gehört auch ein würdiges Gedenken an die mutmaßlich weit über 200 Todesopfer nationalsozialistischer Verfolgung aus Ingolstadt. Allerdings sind bisher noch gar nicht alle Opfer bekannt. Die Forschung nach Ingolstädter Opfern vieler NS-Opfergruppen ist noch nicht abgeschlossen. Wir beantragen Maßnahmen, um diese Wissenslücken im kollektiven Gedächtnis der Stadt zu schließen und den Angehörigen endlich ein würdiges Gedenken zu ermöglichen. Denn allein mit der Anbringung einer Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus ist es nicht getan.

Beim Stichwort Gedenken kommt man auch auf eine Gedenktafel auf dem Westfriedhof. Nach wie vor befindet sich vor der Aussegnungshalle eine Orientierungstafel, auf der ehemalige NSDAP-Funktionäre wie Sanitätsrat Ludwig Liebl als „Ehrenbürger“ genannt werden. In einem zweiten Antrag wird deshalb die Entfernung dieser Tafel bzw. deren Ersatz durch einen Friedhofsplan gleich mit gefordert.

Hier die Anträge im Wortlaut:

Ingolstadt, 5. Juni 2020

Erinnerung Heute für Morgen – Gedenken an die Ingolstädter Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ermöglichen

Ergänzungsantrag zum CSU-Stadtratsantrag „Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus“

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

in Ihrem Pressestatement anlässlich der Kranzniederlegung zur Erinnerung an den mutigen Widerstand von Paul Weinzierl in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs betonten Sie die Bedeutung des Gedenkens „für unsere Demokratie und unsere Zukunft“. Dazu gehört auch ein würdiges Gedenken an die mutmaßlich weit über 200 Todesopfer nationalsozialistischer Verfolgung aus Ingolstadt, nicht nur, aber unbedingt auch in Form einer Gedenktafel.

Allerdings sind bisher noch gar nicht alle Opfer recherchiert. Das Schicksal jüdischer Opfer aus Ingolstadt sowie der Opfer von Wehrmachtsjustiz, einiger politisch Verfolgter und Zwangsarbeiter*innen wurde in den vergangenen Jahrzehnten umfassend von engagierten Einzelpersonen aufgearbeitet, allen voran durch den Historiker Dr. Theodor Straub. Nach weiteren Ingolstädter NS-Opfern anderer Opfergruppen wurde bisher kaum geforscht. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Suche nach NS-Opfern durch die Digitalisierung erst seit jüngerer Zeit möglich ist: Die meisten NS-Gedenkstätten verfügen heute über Opferdatenbanken, zum Teil öffentlich einsehbar auf den jeweiligen Internetseiten.

Das „International Center on Nazi Persecution (ITS)“ in Bad Arolsen hat zahlreiche Zeitdokumente digitalisiert und veröffentlicht. In den letzten Monaten ergaben sich neue Erkenntnisse zu Ingolstädter Todesopfern des NS-Regimes.
So konnten 16 in Ingolstadt bisher unbekannte Personen der Opfergruppe der Sinti und Roma recherchiert werden, die (bzw. deren Eltern) vor ihrer Deportation nach Auschwitz mehrere Jahre in Ingolstadt gemeldet waren. Außerdem wurden in Ingolstadt ums Leben gekommene Zwangsarbeiter*innen sowie in Konzentrationslagern ermordete „politisch Verfolgte“ mit Wohnsitz in Ingolstadt identifiziert, deren Biografien noch erschlossen werden müssen. In diesem Jahr hat der Deutsche Bundestag die Anerkennung und Entschädigung der Opfergruppen sogenannter „Asozialer“ und „Berufsverbrecher“ anerkannt. Mindestens 15 Ingolstädter*innen dieser Opfergruppen sowie sogenannte „Justizhäftlinge“ sind in den ehemaligen Konzentrationslagern Mauthausen, Sachsenhausen, Dachau und Flossenbürg ums Leben gekommen. Dass es auch Ingolstädter Opfer der NS-„Euthanasie“-Tötungsaktion „Aktion T4“ gegeben hat, wurde erst anlässlich der Gedenkveranstaltung im Stadttheater Ingolstadt publik.

Bevor die ermordeten Ingolstädter*innen aller Opfergruppen nicht umfänglich recherchiert wurden, macht die Erstellung einer Gedenktafel wenig Sinn. Darüber hinaus sind zusätzliche Maßnahmen erforderlich, um die Wissenslücken im kollektiven Gedächtnis der Stadt über ermordete Ingolstädter Opfer der NS-Verbrechen zu schließen und deren Angehörigen endlich ein würdiges Gedenken zu ermöglichen.

Die Stadtratsfraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN beantragt daher:

  1. Die Ausstattung des Medizinhistorischen Museums und/oder des Stadtmuseums mit Mitteln zur Finanzierung einer auszuschreibenden Projektstelle zur Erforschung weiterer Ingolstädter Opfer der NS-„Gesundheitspolitik“ und der NS-„Euthanasie“ mit den Zielen:
    a) die Ergebnisse der Arbeit im Rahmen einer Ausstellung zu präsentieren,
    b) die Ergebnisse der Arbeit in einem „Ingolstädter Gedenkbuches für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde“ zusammenzufassen.
  2. Die Beauftragung zur Einrichtung eines Ingolstädter Online-Gedenkbuchs.
  3. Die Ausstattung des Stadtmuseums mit Mitteln zur Finanzierung einer Honorarkraft, welche Biografien ermordeter Ingolstädter*innen bislang nicht oder nur unzulänglich berücksichtigter NS-Opfergruppen (mit Ausnahme NS-„Euthanasie“ / „Gesundheitspolitik“) erstellt bzw. nach möglichen weiteren Ingolstädter*innen aus diesen Opfergruppen recherchiert mit dem Ziel, deren Biografien für das Online-Gedenkbuch aufzubereiten.
  4. Die Vergabe eines Auftrags zur Gestaltung einer Ingolstädter Gedenktafel sowie deren Finanzierung für die Gedenkstätte Schloss Hartheim.
  5. Einen Sachstandsbericht durch Vertreter*innen der Gedenkinitiative „Erinnern.Gedenken.Gestalten. Gestern.Heute.Morgen.“ über deren Aktivitäten vor dem Kulturausschuss in Verbindung mit einem Sachstandsbericht zur Errichtung neuer „blauer Stelen“.

Begründung

Zu 1. Bisher liegen 38 Namen von Opfern der zentralen NS-„Euthanasie“ („Aktion T4“) vor, die in Ingolstadt oder der Region geboren (und/oder ihren Wohnsitz hatten) und überwiegend in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet wurden, darunter ein neunjähriger Junge. Die Recherchen bezüglich Ingolstädter Opfer der NS-„Gesundheitspolitik“ und der NS-„Euthanasie“ befinden sich im Anfangsstadium. Im Vergleich zu anderen bayerischen Städten, die während des Dritten Reiches ebenfalls keine Pflege -und Heilanstalten vor Ort hatten, ist von weit über einhundert Opfern der NS-„Euthanasie“ und mehreren Hundert Ingolstädter Opfern von Zwangssterilisation auszugehen. Die Recherche nach Opfern dezentraler „Euthanasie“ (Ermordung durch Medikamentenvergabe, Vernachlässigung) ist ein sehr aufwändiger Prozess und kann ohne fachliche Expertise nicht geleistet werden. Städte wie München, Landshut und Erlangen haben zur Aufarbeitung „ihrer“ Opfer von NS-„Euthanasie“ Forschungsaufträge vergeben, teils wurden die Ergebnisse bereits veröffentlicht. Dem Beispiel Münchens folgend wäre die Präsentation der Forschungsergebnisse in einem „Ingolstädter Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde“ wünschenswert. Weil Erinnerungsarbeit kein Selbstzweck ist, sollte die Vermittlung mitgedacht werden: Denkbar wäre die Beteiligung von Schulklassen bei der Aufbereitung der Opfer-Biografien für eine Ausstellung nach Beendigung der Recherchearbeiten. Auch eine mögliche Beteiligung der damaligen Ingolstädter Psychiatrie und Ärzteschaft sowie des Gesundheitsamtes z.B. bei der Anordnung von Zwangssterilisationen sollte im Rahmen der Forschungsarbeit berücksichtigt werden. Eine Angliederung der Projektstelle beim Medizinhistorischen Museum wäre sinnvoll. Dessen Direktorin, Marion Ruisinger, forscht seit Jahren über die Umsetzung des 1933 erlassenen Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und in diesem Zusammenhang auch nach Opfern von Zwangssterilisation aus Ingolstadt. Laufzeit und Vergütung für die Projektstelle können erst nach Einschätzung des zu erwartenden Arbeitsumfangs benannt werden (insbesondere anhand des noch zu klärenden Umfangs der im Bezirksarchiv gelagerten Patientenakten von Ingolstädter Bürger*innen während des Dritten Reiches). Co-Finanzierungsmöglichkeiten durch den Bezirk Oberbayern, den Freistaat oder den Bund sollten geprüft werden.

Zu 2. Einzelschicksale ermöglichen einen direkten, emotionalen Zugang zur Geschichte. Auch der notwendige Kontakt zu Angehörigen kann durch eine Veröffentlichung von Opfernamen erleichtert werden, bis heute sind die meisten Angehörigen der Opfer von NS-„Euthanasie“ im Unklaren über das Schicksal ihrer Verwandten. Wir beantragen die Einrichtung eines Online-Gedenkbuches mit Namen, ggf. Privatfotos und Fotos von Originaldokumenten sowie Biografien von Ingolstädter Opfern aller NS-Opfergruppen. Als Präsentationsort bietet sich entweder die Seite der Stadt Ingolstadt oder die Seite des Stadtmuseums (im Zusammenhang mit der geplanten Neugestaltung des Online-Auftritts der Mahn- und Gedenkstätten) an.Zu 4. Schloss Hartheim (bei Linz) war von 1939 bis 1941 eine von sechs Vergasungsanstalten des Dritten Reiches für „Kranke“, allein in Hartheim wurden während dieser Zeit über 18.000 Menschen ermordet, darunter 37 aus Ingolstadt und der Region. Bei einem Ingolstädter Opfer kann nicht abschließend geklärt werden, ob er in Grafeneck oder Hartheim ermordet wurde. In der Gedenkstätte Schloss Hartheim haben Städte, Bezirke, Gemeinden sowie Angehörige die Möglichkeit, eine Gedenktafel anbringen zu lassen (maximale Größe 40 cm x 50 cm). Viele bayerische Bezirke, Städte und Gemeinden sind dort mit einer Gedenktafel vertreten. Diesem Beispiel sollte Ingolstadt folgen, mit der Gestaltung könnte ein/e regionale/r Künstler*in beauftragt werden. 

Zu 3. Opfer-Recherchen und die professionelle Aufarbeitung von Biografien sowie deren Präsentation für eine Online-Opferdatenbank können nicht allein in ehrenamtlicher Arbeit geleistet werden, es bietet sich an, dafür eine/n Student*in mit entsprechender fachlicher Ausrichtung auf Honorarbasis einzustellen.

Zu 4. Schloss Hartheim (bei Linz) war von 1939 bis 1941 eine von sechs Vergasungsanstalten des Dritten Reiches für „Kranke“, allein in Hartheim wurden während dieser Zeit über 18.000 Menschen ermordet, darunter 37 aus Ingolstadt und der Region. Bei einem Ingolstädter Opfer kann nicht abschließend geklärt werden, ob er in Grafeneck oder Hartheim ermordet wurde. In der Gedenkstätte Schloss Hartheim haben Städte, Bezirke, Gemeinden sowie Angehörige die Möglichkeit, eine Gedenktafel anbringen zu lassen (maximale Größe 40 cm x 50 cm). Viele bayerische Bezirke, Städte und Gemeinden sind dort mit einer Gedenktafel vertreten. Diesem Beispiel sollte Ingolstadt folgen, mit der Gestaltung könnte ein/e regionale/r Künstler*in beauftragt werden.

Zu 5. Die Gedenkinitiative „Erinnern.Gedenken.Gestalten. Gestern.Heute.Morgen.“ ist die wichtigste zivilgesellschaftlich Instanz bei der Erinnerungsarbeit für unsere Stadt. Im November 2019 wurde durch den Ingolstädter Stadtrat ein Gemeinschaftsantrag mit umfassenden Maßnahmen zur Stärkung der Erinnerungskultur sowie der Arbeit der Gedenkinitiative beschlossen. Wir beantragen einen Austausch mit den Vorsitzenden der Gedenkinitiative, Gerda Biernath und Lutz Tietmann, sowie mit Frau Dr. Schönewald für das Stadtmuseum zum derzeitigen Arbeitsstand, um zu klären, welcher Unterstützungsbedarf besteht. Darüber hinaus soll der Kulturausschuss informiert werden über den Planungsstand der neu zu errichtenden „Blauen Stelen“ für bislang nicht vertretene Opfergruppen.

Mit freundlichen Grüßen

Agnes Krumwiede, Barbara Leininger (Fraktionsvorsitzende), Christian Höbusch (Fraktionsvorsitzender), Steffi Kürten, Maria Segerer, Jochen Semle, Dr. Christoph Spaeth

Ingolstadt, 5. Juni 2020

Keine Nennung als „Ehrenbürger“ für ehemalige NSDAP-Funktionäre

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

auf der Seite der Stadt Ingolstadt werden ehemalige NSDAP-Funktionäre wie der einstige zweite NSDAP-Bürgermeister Georg Friedrich Schott und Sanitätsrat Ludwig Liebl unkommentiert als „Ehrenbürger“ aufgelistet.

Sanitätsrat Ludwig Liebl war Mitglied der NSDAP, Mitbegründer und Leiter der NSDAP-Ortsgruppe in Ingolstadt, Gründer des „Donauboten“ und Vorsitzender des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes. Bis zu seinem Tod 1940 war er Leiter der Ingolstädter „Liebl“-Klinik, seine enge Freundschaft mit Adolf Hitler wurde in mehreren Publikationen dokumentiert. In einem Donaukurier- Artikel vom 26.09.2017 wird der Historiker Dr. Theodor Straub zitiert, der Liebl als den „größten Nazi von Ingolstadt“ bezeichnet und ergänzt, es sei „eine Schande, dass Liebl auf einer Orientierungstafel bei der Aussegnungshalle am Westfriedhof immer noch als Ehrenbürger der Stadt genannt werde.“

Diese Orientierungstafel befindet sich nach wie vor an der Aussegnungshalle am Westfriedhof. Darauf stehen neben Liebl weitere Namen ehemaliger regionaler „Nazi-Größen“ mit der Bezeichnung „Ehrenbürger“.

Wir stellen folgenden Antrag:

  1. Überarbeitung des Textes auf der Internetseite der Stadt Ingolstadt (https://www.ingolstadt.de/stadtmuseum/pdf/Ehrenbuerger%20der%20Stadt%20Ingolstadt%20seit%201832.pdf), ehemalige NSDAP-Funktionäre dürfen dort nicht als „Ehrenbürger“ der Stadt Ingolstadt bezeichnet werden.
  2. Entfernung der Orientierungstafel bei der Aussegnungshalle am Westfriedhof, diese sollte ersetzt werden durch einen Friedhofsplan mit historischen Informationen (Kurz-Biografien zu am Westfriedhof beerdigten Ingolstädter Persönlichkeiten, Informationen zu den Massengräbern und einem kurzen Text zur Friedhofsgeschichte).

Mit freundlichen Grüßen

Agnes Krumwiede, Barbara Leininger (Fraktionsvorsitzende), Christian Höbusch (Fraktionsvorsitzender), Steffi Kürten, Maria Segerer, Jochen Semle, Dr. Christoph Spaeth

20200605_Ehrenbürgerschaft NSDAP-Funktionäre_Antrag

20200605_Erinnerungskultur stärken_Ergänzungsantrag